Dienstag, 12. April 2011

[Rezension] Die Hassliste von Jennifer Brown

Der erste Satz:
„Als „entsetzlich“ bezeichnen Ermittlungsbeamte, die derzeit die näheren Umstände des Gewaltausbruchs vom Freitagvormittag untersuchen, die Umstände am Schauplatz des Verbrechens, der Cafeteria der Garvin-Highschool.“
Inhalt (dtv):
Valerie ist sechzehn, als ihre Welt zusammenbricht. In der Schul-Cafeteria eröffnet ihr Freund Nick das Feuer auf seine Mitschüler. Er tötet sechs Menschen und verletzt zahllose andere. Valerie selbst wirft sich vor eine Schülerin und wird dabei schwer getroffen. Doch hinterher wird sie keinesfalls als Heldin betrachtet, sondern als Mittäterin. Gemeinsam mit Nick hatte sie die Hassliste geführt, auf der die Namen aller Opfer standen. Für Valerie war es ein Spiel gewesen, ein Ritual, das sie mit Nick verband. Ohne zu merken, dass es für ihn offenbar viel mehr war …
Meine Meinung:
Kennt ihr sie auch, diese Bücher, die euch schon mit dem ersten Satz fesseln und bei denen ihr hofft, dass es auch so bleibt?
Die Hassliste von Jennifer Brown war für mich genau so ein Buch. Aufgeteilt in vier Teile, beginnt der erste mit einem Artikelauszug, der von dem Amoklauf an der Gavin Highschool berichtet. Täter ist der Jugendliche Nick Levin, der sich am Ende selbst das Leben nahm. Zurück lässt er seine Freundin Valerie, die mit einer Schusswunde davon kommt. Valerie scheint also noch Glück gehabt zu haben, doch nach diesem Ereignis ist nichts mehr in ihrem Leben so, wie es einmal war ...
Valerie und Nick werden über Jahre hinweg von den beliebten Schülern der Garvin High schikaniert und gedemütigt. Sie werden als Versager bezeichnet und sie bekommt sogar den Spitznamen 'Todesschwester'. Einziger Halt in dieser schweren Zeit finden die beiden in ihrer Beziehung zueinander. Sie wissen um die Geheimnisse des anderen. Valerie weiß von Nicks schwieriger Situation zu Hause, er weiß von den Problemen, die ihre Eltern haben. Valerie ist sich sicher, dass niemand auf der Welt sie so gut kennt, wie Nick und umgekehrt. Aber wie kann es dann sein, dass er eines Tages in die Schule maschiert und Leute umringt? Wie kann es sein, dass die Scherze, die sie auf Kosten der beliebten Schüler gemacht haben; die Hassliste, die sie führten, für Nick viel mehr war, als eine Möglichkeit, Wut abzulassen? Valerie weiß einfach keine Antwort darauf. Sie fühlt sich innerlich zerissen von den Erinnerungen an einen ganz anderen Nick und all den Dingen, die nun über ihn gesagt werden. Schlimmer noch, sie weiß auch nicht ganz genau welche Rolle sie selbst in diesem Spiel gespielt hat.
Was Jennifer Brown mit der Hassliste geschrieben hat, ist schlicht ein unglaublich gutes Buch. Sie schafft es gekonnt Valeries Ohnmacht direkt nach dem Amoklauf zu schildern. Die ständigen Fragen, die sie sich stellt: Kannte sie Nick wirklich oder hatte sie nur geglaubt das zu tun? Ist sie Mittäterin oder ist sie wirklich das Mädchen, das dem Amoklauf ein Ende gesetzt hat? Zusammen mit Valerie kommt man den Antworten auf diese schweren Fragen nach und nach näher. Dabei steht ihr der sympathische Therapeut Dr. Hieler zur Seite, der von der Autorin sehr gut geschrieben wurde. Er wirkt immer sehr kompetent, aber auch locker. Schlichtweg genau der richtige Arzt für Valerie, die sich kaum noch in ihrem Leben zurechtfindet.
Als Valerie wieder an ihre alte Schule zurückkehrt muss sie mit einigem fertigwerden. Die Leute meiden sie, sie trauen ihr nicht. Nicht einmal ihre eigene Mutter ist sich sicher, ob die anderen nicht vor Valerie beschützt werden müssen. Sehr eindringlich, aber niemals aufgesetzt, spricht Jennifer Brown hier an, wie viel man wirklich von einem anderen Menschen wissen kann. Am Ende kann man den Leuten eben nur vor den Kopf schauen. Meist ist das aber etwas, mit dem man zu leben gelernt hat. Was ist aber, wenn das zu einem Amoklauf führt?
Valerie und ihre Beziehung zu Nick spielen eindeutig die zentrale Rolle innerhalb der Geschichte. Trotzdem gibt es auch viele andere Charaktere, die ein breites Spektrum an Reaktionen auf Valerie und die Bluttat zeigen. Brown schafft es dabei wirklich jede Sichtweise – und sei sie noch so unsympathisch – glaubwürdig zu schildern. Ich war teilweise schockiert, welche Entwicklungen es allein schon innerhalb von Valeries Familie gab, zeitgleich konnte ich die Handlungen aber auch bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, was das Lesen sehr komplex gemacht hat. Manchmal war ich regelrecht verwirrt und wusste selbst nicht auf wessen Seite ich nun stehe. Auf Valeries, die nicht wusste, was in ihrem Freund vorging. Oder auf der, der wütenden Eltern, die einen Sündenbock für ihre Verluste suchen. Oder auf der von Valeries Mutter, die sich auf ihre ganz eigene Weise um ihre Tochter bemüht. Alles wird hinterleuchtet, ist auf seine Weise echt und dabei glaubwürdig. Jennifer Brown hat dabei ein unglaubliches Talent dafür, den Leser zusammen mit Valerie leiden zu lassen. Man ist betroffen und stellt sich die Frage, was wäre wenn mir so etwas passieren würde? Würde ich Valerie glauben? Oder reflektiert über eigene kleine Handlungen nach. Wie oft hat man vielleicht schon weggesehen, wenn jemand anderes schikaniert wurde; wie oft hat man jemanden so sehr gehasst, dass man ihm die schlimmsten Dinge an den Hals wünschte? All diese Reaktionen sind menschlich. Aber sie bergen auch ein großes Potenzial in sich zu etwas Schrecklichem zu werden. Wie schmal der Grad ist, diese Grenze zu überschreiten, das zeigt Die Hassliste auf.
Ich kann wirklich nicht in Worte fassen, wie großartig dieses Buch geschrieben ist. Jennifer Brown schafft es Nick und seiner Beziehung zu Valerie durch schön eingeflochtene Rückblenden Leben einzuhauchen. Denn nicht nur die Sicht von Valerie oder die der Opfer ist wichtig, sondern auch ein Gefühl des Lesers dafür, wie Nick früher wirklich war. Dabei untermauert sie, wie sensibel Kommunikation wirklich ist. Ein Mensch sagt etwas, der andere meint es genau zu verstehen und schlussendlich ist etwas völlig anderes gemeint. Das wird im Nachhinein bei den Gesprächen zwischen Nick und Valerie klar. Doch gleichzeitig kann man sich auch komplett in Valerie hineinversetzen und weiß, dass man an ihrer Stelle genau dasselbe gedacht und angenommen hätte. Generell ist Valeries Innenleben unglaublich emotional und gleichzeitig durch leise Töne beschrieben, wodurch es mir sehr nahe ging– eben weil es so natürlich und echt wirkt. Ab und an musste ich auch eine Träne vergießen, weil der Kloß in meinem Hals nicht verschwinden wollte.
Ein Amoklauf ist ein sehr sensibles, für Außenstehende - denke ich - auch meist sehr abstraktes Thema, umso lobenswerter ist es, wie zwanglos Jennifer Brown an die Sache herangeht. Dieses Buch ist von der Thematik her weder einfach, noch ist es etwas für schwache Gemüter. Dafür ist es aber ehrlich, emotional und regt unglaublich zum Denken an. Ich mache das wirklich nicht oft, doch hier spreche ich eine uneingeschränkte Empfehlung aus und kann nur sagen: ausleihen oder kaufen, hauptsache lesen! Egal wie ihr es anstellt, lest einfach dieses Buch, denn es ist eines, das wirklich etwas Wichtiges zu sagen hat. Und bereuen wird man das bei Die Hassliste (auch wenn das Cover nicht gerade der Renner ist) nicht. Hätte ich mehr Punkte vergeben können, hätte ich das ohne mit der Wimper zu zucken getan.


Gebundene Ausgabe:
456 Seiten, Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN-13: 978-3423760034

Vielen lieben Dank für das Rezensionsexemplar an Dtv!

1 Kommentare:

Izzy hat gesagt…

@Nina:
Das mit den Nerdfighters sehe ich mir später mal an, danke für den Link!

Das Buch ist wirklich der Hammer und bis jetzt eines der besten, das ich in diesem Jahr gelesen habe.
Ich konnte Valerie aber richtig gut verstehen. Ich denke, die meisten hatten mal einen Menschen in ihrem Leben, dem sie es immer ein Stück weit versucht haben recht zu machen. Auch wenn das eben bedeutet, nicht ganz man selbst zu sein. Deprimierend ist das alle mal, aber auch sehr echt, was ich an dem Buch gerade so mochte.

Danke für das Kompliment.

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